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Flexibilitätskennzahlen

in der Zuliefererindustrie

Die Einführung von ERP-Systemen in der Zulieferbranche erfüllt in wenigen Fällen die Erwartungen der Anwender. Ist es die fehlende Funktionalität im Softwaresystem, die den Benutzer verzweifeln lässt? Das kann zwar ein Grund sein, aber häufig liegt es schlicht an der falschen Funktionsauswahl, mit der die einzelnen Geschäftsprozesse gesteuert werden.

Zulieferunternehmen sind auf der einen Seite gezwungen, flexibel auf die Anforderungen der Kunden zu reagieren. Das heißt, sie müssen sich jederzeit auf die Abrufschwankungen der Abnehmer einstellen. Auf der anderen Seite sind sie gezwungen Produktionsaufgaben an Fremdfertiger und Lieferanten zu vergeben, da sie selbst gar nicht in der Lage sind, die entsprechenden Arbeiten auszuführen. In diesem turbulenten Umfeld wird oftmals auf das Hilfsmittel ERP-System zurückgegriffen. Zumindest die Anfangsphase der Softwareeinführung ist dadurch gekennzeichnet, dass in der Euphorie alle möglichen und unmöglichen Aufgaben gesammelt und ganz detailliert in der Software nachgebildet werden. Ob dieser Aufwand wirklich gerechtfertigt ist oder dadurch die gewünschte Flexibilität im Unternehmen verloren geht, wird oft erst nach der Einführung bemerkt.

Die Basis sind charakteristische Geschäftsvorfälle: Das sprichwörtliche Schießen mit Kanonen auf Spatzen“ lässt sich dadurch vermeiden, dass zuerst einmal die Kernprozesse aus der Aufgabenvielfalt herausgefiltert werden. Jeder dieser Leistungsprozesse wird im ersten Schritt über einen charakteristischen Geschäftsvorfall dokumentiert. Der Geschäftsvorfall ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Informationen zu einem Endprodukt zusammengestellt werden, und zwar von den einzelnen Abrufen in der Disposition, über die bestehenden Arbeitsanweisungen in der Fertigung und die Einkaufsunterlagen für die Zukaufsteile bzw. Rohstoffe, bis hin zu den Versandanweisungen. Anhand der Daten kann der Gesamtprozess für dieses charakteristische Teil dargestellt und analysiert werden. Welcher Steuerungsansatz dann zukünftig auf einer Prozessstufe zum Einsatz kommt, hängt einerseits von den Anforderungen und andererseits von den organisatorischen bzw. technischen Gegebenheiten ab. Konkret bedeutet das: Die Sachzwänge entscheiden, ob z.B. eine Steuerung nach MRP (Material Requirement Planning), Kanban oder Fortschrittszahlen gilt es anhand der charakteristischen Geschäftsvorfälle zu messen.

Bedarfsschwankungen legen die geforderte Flexibilität fest: Aus den Anforderungen, die auf ein Zulieferunternehmen und im Detail auf jede einzelne Prozessstufe wirken, kann die Häufigkeit der Bedarfsschwankungen herausgehoben werden. Dieses Maß legt die geforderte Flexibilität an den Planungsalgorithmus fest. Die notwendigen Kennzahlen werden dabei aus den einzelnen Abrufeinteilungen gewonnen. Die Abrufe gilt es über einen längeren Zeitraum zu sammeln und auszuwerten, um dadurch längerfristige Tendenzen zu erkennen.

Die Kennzahlen sind im einzelnen:

Festschreibungsspanne: Gemessen wird die Differenz der Zeitpunkte (in Zeiteinheiten), an denen zwei aufeinander folgende Abrufe im Unternehmen eingehen.

Bedarfserhaltungshorizont: Der erste Zeitpunkt, an dem die Bedarfsanforderungen des neuen Abrufs vom bisher gültigen Abruf abweichen, legt das Ende des Bedarfserhaltungshorizonts fest.

– Zeitspanne des Bedarfserhaltungshorizonts

– Höhe der ersten Abweichung zweier Abrufe (z. B. in Prozent)

Abrufzeitraum: Über den Gesamtzeitraum eines einzelnen Abrufs können einerseits Auswertungen über den Bedarfsverlauf innerhalb des Abrufs und andererseits Informationen über die Gesamtveränderungen zwischen verschiedenen Abrufen durchgeführt werden.

Aus der Reihe der einzelnen Abrufeinteilungen werden jeweils die aufeinanderfolgenden Abrufe miteinander verglichen, und die so gewonnenen Kennzahlen über statistische Maßzahlen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der arithmetischen Mittelwert legt beispielsweise die mittlere Zeitspanne des Bedarfserhaltungshorizonts fest. Ob dieser Wert jedoch brauchbar ist bzw. ob mit diesem Wert vorausschauend gearbeitet werden kann, muss zusätzlich betrachtet werden. Dazu dient die Varianz: Sie beschreibt die Streuung der Einzelwerte. Das heißt, je größer die Varianz, desto ungenauer wird ein berechneter Mittelwert. Und das bedeutet für die Steuerung, dass sie bei einer großen Varianz sehr flexibel sein muss. Ist dies unmöglich, so gilt es die Schwankungen durch Lagerbestand auszugleichen.

Reaktionszeiten sind das Trägheitsmoment: Alleine von den Bedarfsschwankungen lässt sich das geeignete Planungsverfahren nicht ableiten, denn außer den Anforderungen spielt auch die Reaktionsfähigkeit der eigenen Produktion bzw. der am Produktionsprozess beteiligten Partner eine wesentliche Rolle. Können Bedarfsschwankungen (z.B. 10%) überhaupt von der Organisation und den technischen Gegebenheiten verkraftet werden? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist es unabdingbar, dass der Gesamtprozess in die einzelnen Fertigungsstufen aufgeteilt wird. Mit den nachfolgenden Kenngrößen lässt sich dann die Reaktionsfähigkeit messen:

  • maximaler Ausstoß pro Tag: Anzahl der Teile, die an einem Tag gefertigt werden können. In diesem Erfahrungswert Flexibilitätskennzahlen in der Zulieferindustrie werden Größen, wie Kapazitätsangebot, Kapazitätsbelastung und Werkzeugstandzeiten erfasst. Ein Anhaltspunkt geben dabei die Rückmeldungen aus der Vergangenheit. 
  • Durchlaufzeit pro Fertigungsstufe: Zeitdauer, die ein Teil vom Eingang der Unterteile bis zur endgültigen Weitergabe in der Kapazitätseinheit verweilt. Wichtige Kenngrößen sind hier die Produktionszeit und die technisch bedingten Liegezeiten (Trocknungs-, Aushärtungszeiten, etc.).
  • Qualifikation der Mitarbeiter: Können die Mitarbeiter eines Produktionsbereiches logistische Aufgabenstellungen lösen?
  • Abwicklungszeit im Wareneingang und –ausgang: Verweildauer von Teilen, die entweder versandt oder vereinnahmt werden. Hier gilt es auch die Zeitspanne zu betrachten, in der die Teile einer Qualitätssicherung zugeführt werden.
  • Wiederbeschaffungsbedingungen: Werden Teile fremdgefertigt oder eingekauft, so gilt es die Reaktionsfähigkeit des Partners zu erfassen. Welche Zeitspanne benötigt er, um auf Bedarfsveränderungen zu reagieren? Können geringe Schwankungen (bis z.B. 10%) sofort bedient werden? Ist eine Bestellung losgrößenabhängig?
  • Wertschöpfung: Kosten, die das Teil in der Fertigungsstufe verursacht. Zusätzlich ist der Wert des Teiles interessant, den es nach der Bearbeitung erreicht. Ein aufwendiges Planungsverfahren für eine geringe Wertschöpfung ist fraglich, da unter Umständen ein geeigneter Lagerbestand kostengünstiger ist.
  • Lagerkapazitäten: Lagerplatz, der für die Teile verfügbar ist. Gerade bei großvolumigen Teilen kann die Lagerkapazität Einfluss auf die Planung haben.
  • Transportkapazitäten: Transportrestriktionen, z.B. Lieferung erfolgt nur bei Bestellung eines vollen LKW’s oder die Lieferung wird nur an bestimmten Tagen durchgeführt.

Obwohl diese Werte oftmals nur Näherungen des tatsächlichen Geschehens darstellen, erkennt man schnell den Engpass im Gesamtprozess. Und genau dieser ist der Ansatzpunkt für die geeignete Steuerung, denn die Planungsverfahren der einzelnen zumindest dieser und der vorgelagerten Fertigungsstufen werden auf den Engpass ausgerichtet.

Jeder Steuerungsansatz stellt seine Anforderungen an die Organisation: Wird nun ein bestimmtes Planungsverfahren auf einer Prozessstufe eingesetzt, so stellt es – außer den Möglichkeiten – auch Anforderungen an die Organisation und die Qualifikation der Mitarbeiter.

Zum Beispiel muss in Unternehmen, in denen vorwiegend eine Steuerung nach MRP-Prinzipien installiert ist, die zentrale Fertigungssteuerung als Planungs- und Steuerungsstelle erhalten bleiben. Kanban und Fortschrittszahlen arbeiten hier flexibler, aber diese Planungsverfahren stellen auf der anderen Seite höhere Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter in der Produktion. Hat ein Unternehmen für einen Auftragsbestand nur ‘begrenzte Kapazitäten’ zur Verfügung, so muss eine vorausschauende Produktionsplanung durchgeführt werden. Und somit fällt Kanban für die Steuerung aus, da es nur auf Basis des Jetzt steuert. Ist Selbstverantwortung in den einzelnen dezentralen Produktionsbereichen bei gleichzeitig vorausschauender Planung als Steuerungsform gefordert, so kommt der Fortschrittszahlenansatz in Frage Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem feste Reservierungen auf Vormaterialien getätigt werden, kann auf eine MRP-Steuerung nicht verzichtet werden. Zusammenfassend kann man festgehalten: Nicht nur die ERP-Software entscheidet über den Einführungserfolg, sondern auch die richtige Auswahl des Planungsalgorithmus. Daher können Flexibilitätskennzahlen eine entscheidende Hilfe bei der Auswahl bieten.

 

Quelle: vgl. www.agilas.org bzw. Dipl. Math. (FH) Dietmar Lohr: ZWF Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb